Einleitung
Wer mit Menschen arbeitet, die sich in ihrer letzten Lebensphase befinden, merkt schnell, dass medizinische Entscheidungen nicht mehr in vertrauten Bahnen verlaufen. Gerade die Dialyse zeigt das exemplarisch. Was über Jahre ein stabiler, fast selbstverständlicher Bestandteil der Behandlung war, verändert seinen Charakter. Dialyse ist kein Ja/Nein-Verfahren, sondern eine Therapie, deren Nutzen und Belastung sich im Verlauf des Lebens verschieben – oft schneller, als Angehörige oder Behandelnde es wahrhaben wollen. In dieser Phase geht es nicht mehr nur darum, ein technisches Verfahren fortzuführen, sondern darum, zu erkennen, ob dieses Verfahren überhaupt noch zu den Zielen, Möglichkeiten und zum Willen eines Menschen passt (Chan, 2019).
Die Schwierigkeit beginnt meist weit früher, als es auf den ersten Blick scheint. Angehörige stehen zunächst nicht vor einer klaren medizinischen Entscheidung, sondern in einem emotionalen Feld aus Sorge, Überforderung, Unsicherheit und der Angst, „das Falsche“ zu tun. Behandelnde Fachpersonen stehen mit ihnen in diesem Spannungsraum. Die theoretischen Konzepte sind klar beschrieben, Leitlinien geben eindeutige Empfehlungen, und die rechtliche Lage in Deutschland ist gut strukturiert. Die Praxis fühlt sich jedoch anders an. Für viele Menschen ist die Dialyse ein Symbol für Lebensverlängerung, Stabilität und Kontrolle. Wenn dieser Anker ins Wanken gerät, geraten Betroffene und Angehörige in eine instabile Entscheidungssituation. Erst danach entsteht Raum für die medizinisch-ethischen Fragen, die eigentlich im Mittelpunkt stehen sollten.
An dieser Stelle setzt Clinical Reasoning an: Entscheidungen entstehen nicht allein aus Fakten, sondern aus dem Zusammenspiel von klinischem Verlauf, Zielklärung, Prognose, Belastbarkeit, Indikation und dem Willen der Patientin oder des Patienten. Es geht nicht um eine technische Entscheidung, sondern um eine begründete, reflektierte und verantwortbare Beurteilung eines Gesamtbildes. Die Frage „Dialyse beginnen, fortführen oder beenden?“ ist im Kern eine Frage nach dem Ziel: Welches Leben ist an diesem Punkt für diese Person noch lebbar und sinnvoll? Welche Belastung ist tragbar? Welche Werte hat dieser Mensch vertreten, als er noch selbst entscheiden konnte? Und was bedeutet all das im Kontext der aktuellen Situation?
Erschwert wird diese Entscheidungsarbeit dadurch, dass viele Behandlungsteams in einer Art Automatismus gefangen sind. Dialyse wird weitergeführt, weil sie schon immer weitergeführt wurde, weil niemand das kritische Gespräch eröffnet hat oder weil es leichter erscheint, eine Routine zu bedienen, als eine schwierige Entscheidung zu tragen. Mitunter fehlt auch der Mut, einer Familie oder einem Team klar auszusprechen, dass der Punkt erreicht ist, an dem Nutzen und Belastung auseinanderfallen. Die Angst, mit dem Patientenwillen konfrontiert zu werden oder eine Entscheidung mitzutragen, die im Nachhinein als „falsch“ erscheinen könnte, kann stärker sein als die klinische Logik.
Die Folge ist, dass Menschen länger leiden, als es medizinisch sinnvoll wäre – und mitunter länger, als es ihrem inneren Lebenswillen entspricht. Die internationale Datenlage zeigt, dass die Dialyse bei hochbetagten, multimorbiden oder schwer dementen Patient:innen die Lebensqualität kaum verbessert, häufig aber erheblich belastet (Galla, 2010; Kidney Research UK, 2024). Die deutsche Rechtslage betont daher ausdrücklich, dass lebenserhaltende Maßnahmen beendet werden dürfen, wenn sie nicht indiziert sind oder dem Willen der Patientin oder des Patienten widersprechen (Bundesärztekammer, 2011). Es geht dabei weder um „Sterbenlassen“ noch um Aufgabe des Menschen, sondern um Fürsorge, Autonomie und Respekt vor der medizinischen Realität.
Unsicherheit wird in diesen Situationen nie vollständig verschwinden. Es gibt nicht die eine richtige oder sichere Entscheidung. Aber es gibt eine gut begründete, verantwortbare und mit den verfügbaren Informationen tragfähige Entscheidung – medizinisch, rechtlich und menschlich. Dieser Beitrag liefert keine einfachen Antworten, sondern eine Struktur, um in komplexen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Er skizziert eine nachvollziehbare Linie, die wissenschaftliche Evidenz, ethische Grundlagen, rechtliche Rahmenbedingungen und praktische Versorgungsrealität verbindet. So kann ein Entscheidungsrahmen entstehen, der nicht nur Behandelnden Orientierung gibt, sondern auch Angehörigen, die darauf vertrauen, dass solche Entscheidungen professionell begleitet werden.
Was Dialyse am Lebensende bedeutet
Für viele Patient:innen beginnt die Dialyse in einer Phase des Lebens, in der Stabilität, Behandlungssicherheit und das Ziel einer möglichen Transplantation im Vordergrund stehen. Die Therapie verschafft Zeit, Stabilität und eine nachvollziehbare medizinische Struktur. Doch mit fortschreitender Erkrankung verändern sich die Rahmenbedingungen. Diese Veränderungen entstehen nicht, weil die Dialyse an Wirksamkeit verliert, sondern weil der Organismus, der sie tragen muss, ein anderer geworden ist. Am Ende des Lebens reagiert ein geschwächter Körper anders auf dieselbe Intervention, die zuvor jahrelang zuverlässig funktioniert hat.
Diese Veränderung verläuft nicht nur schleichend. Häufig zeigen konkrete klinische Ereignisse, dass sich das Verhältnis zwischen Belastung und Nutzen verschiebt. Wiederholte Krankenhausaufenthalte, Komplikationen, ausgeprägte Schwäche und funktionelle Einbußen weisen darauf hin, dass sich das Verhältnis zwischen Nutzen und Belastung verschiebt. Die Therapie bleibt technisch gleich, aber die physiologischen Antworten werden fragiler, weniger vorhersehbar und schwerer zu kompensieren. Dadurch verändert sich nicht nur die medizinische Perspektive, sondern auch der Alltag der Betroffenen.
Im klinischen Gespräch mit Angehörigen zeigt sich dies besonders deutlich. Aussagen wie „Er hat die Dialyse doch immer gut vertragen“ oder „Sie war danach immer munter“ beschreiben frühere Lebensphasen, treffen aber auf den aktuellen Zustand oft nicht mehr zu. Am Lebensende ist die Reaktion auf eine Dialysesitzung häufig eine andere: Schwindel, Kreislaufinstabilität, kognitive Einbrüche, verstärkte Erschöpfung oder ausgeprägte Müdigkeit. Diese Symptome sind keine Nebenwirkungen im engeren Sinne, sondern Ausdruck eingeschränkter physiologischer Reserve. Die RPA/ASN-Guideline beschreibt diesen Übergang präzise: Die objektiv verlängerte Lebenszeit bleibt möglicherweise gering, während die subjektiv erlebte Lebenszeit deutlich schrumpft (Galla, 2010).
Ein weiterer Aspekt, der im klinischen Alltag oft unterschätzt wird, betrifft Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Demenz. In den frühen Jahren der Behandlung wird die Dialyse als sinnvoller Bestandteil des eigenen Alltags verstanden. In späteren Phasen jedoch können Ablauf, Zugänge oder Lagerung nicht mehr eingeordnet werden. Die Behandlung wird dann nicht mehr als Unterstützung erlebt, sondern als fremd und verunsichernd. Abwehr, Angst oder Unruhe spiegeln in diesem Stadium keinen fehlenden Willen wider, sondern ein Gehirn, das die Intervention nicht mehr verarbeitet. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass sich die Therapiebedingungen grundlegend verändert haben.
Damit stellt sich weniger die Frage nach der technischen Durchführbarkeit der Dialyse, sondern vielmehr, ob die Therapie in dieser Phase noch zu einem Zustand führt, der für die betroffene Person tragbar und sinnvoll ist. Die Evidenz zeigt, dass bei hochbetagten oder multimorbiden Patient:innen nur noch geringe prognostische Vorteile zu erwarten sind, während die Belastung spürbar zunimmt (Porteri, 2022). In dieser Lebensphase gewinnen Faktoren wie Belastbarkeit, Symptomlast, funktionelle Einschränkungen und das Verständnis der Maßnahme mehr Gewicht als Laborwerte oder Geräteparameter. Die Therapieentscheidung verschiebt sich vom technischen Machbaren hin zum klinisch Sinnvollen.
Dialyse am Lebensende darf kein Automatismus sein. Sie ist eine Therapie, die regelmäßig in Bezug auf Ziele, Nutzen und Belastbarkeit neu betrachtet werden muss. Nicht weil sie an Bedeutung verloren hätte, sondern weil der Mensch, der sie erhält, sich verändert hat. In manchen Situationen kann diese Neubetrachtung zum Ergebnis führen, dass ein konservativ-palliativer Ansatz für den Menschen realistischer, schonender und sinnvoller ist. In diesen Situationen richtet sich der Blick weg von der technischen Durchführung hin zur Frage nach Lebensqualität, Zielorientierung und dem, was in dieser Phase des Lebens tatsächlich trägt.
Die zentralen drei Faktoren der Dialyse-Indikation
Wenn eine Entscheidung über die Fortführung oder Beendigung der Dialyse ansteht, entsteht keine technische Frage, sondern eine komplexe medizinisch-ethische Abwägung. Internationale Leitlinien wie KDIGO (Chan, 2019) und die RPA/ASN-Guidelines (Galla, 2010) beschreiben übereinstimmend drei Faktoren, die für eine verantwortbare Entscheidung zwingend berücksichtigt werden müssen:
- der erwartbare Nutzen
- die tatsächliche Belastung
- der Wille der Patienten
Diese drei Bereiche sind keine getrennten Schubladen, sondern interagieren miteinander. Erst wenn die Bereiche im Sinne des Clinical Reasoning zusammengeführt werden, kann eine Entscheidung entstehen, die den tatsächlichen Zustand des Menschen abbildet und damit die Richtung weist, die in dieser Situation medizinisch und ethisch stimmig ist.
Der erste Faktor, betrifft den Nutzen, der medizinisch-fachlich noch zu erwarten ist. Dialyse ist ein äußerst wirksames Verfahren, aber ihr Nutzen verändert sich im Verlauf des Lebens. Während sie über viele Jahre Leben rettet und stabilisiert, nimmt ihr prognostischer Vorteil am Lebensende deutlich ab. Je höher die Multimorbidität, je ausgeprägter die Gebrechlichkeit und je deutlicher die funktionellen Einschränkungen sind, desto geringer wird der Einfluss der Dialyse auf Lebensqualität und Lebenszeit. Die Evidenz zeigt, dass bei hochbetagten Patient:innen nur noch ein sehr geringen Überlebensvorteil entsteht (Porteri, 2022). Viele der Ziele, die früher durch die Dialyse erreicht wurden – etwa weniger Atemnot, Übelkeit oder Instabilität – lassen sich in dieser Phase oft ebenso gut oder sogar besser durch ein palliativmedizinisches Vorgehen erreichen. Die zentrale Frage lautet deshalb nicht, ob eine Dialyse technisch möglich ist, sondern ob sie in der aktuellen Situation noch zu einem Leben beiträgt, das für diesen Menschen stimmig und tragbar ist.
Genauso wichtig ist der zweite Faktor: die Belastung, die die Dialyse verursacht. Die Leitlinien betonen, dass die Belastung nicht nur körperlich zu verstehen ist, sondern auch funktionell, emotional, sozial und zeitlich. Am Ende geht es darum, wie viel Kraft die Dialyse dem Körper abverlangt und wie viel davon an den dialysefreien Tagen überhaupt wieder zurückkommt. Wenn die Behandlung mehr Energie fordert, als der Organismus zwischen den Sitzungen regenerieren kann, entsteht ein Ungleichgewicht, das den Alltag dominiert und den Menschen zunehmend schwächt. Häufig wird dieser Aspekt unterschätzt, weil die Dialyse über Jahre zur Routine wird – aber Routine ist kein Indikator für Verträglichkeit. Im hohen Alter oder bei schweren neurologischen Beeinträchtigungen verändert sich die physiologische Antwort auf die Therapie deutlich. Die RPA/ASN-Guideline spricht von „treatment burden“, also dem Gesamtgewicht einer Behandlung, das oft zu schwer wird, lange bevor die technische Grenze erreicht ist (RPA/ASN, 2010).
Der dritte Faktor ist der zentrale: der Wille der Patientin oder des Patienten. Und dieser Wille ist nicht nur ein juristisches Kriterium, das am Ende einer Behandlung geprüft wird, sondern die Grundlage ärztlicher und therapeutischer Arbeit überhaupt. Jede Form von Behandlung setzt voraus, dass sie im Einklang mit der Selbstbestimmung des Menschen steht, für den sie durchgeführt wird. Kein Eingriff darf gegen den Willen eines Menschen erfolgen, und keine lebenserhaltende Maßnahme muss fortgeführt werden, wenn sie den persönlichen Vorstellungen von Leben, Würde oder Lebensqualität widerspricht.
Am Lebensende können sich viele Menschen nicht mehr klar äußern – das macht die Situation besonders herausfordernd. Damit tritt an die Stelle der direkten Entscheidung die Ermittlung des mutmaßlichen Willens – also das, was der Mensch gewollt hätte, wenn er sich ausdrücken könnte. Hier greifen deutsches Recht und medizinethische Prinzipien ineinander. Die Grundsätze der Bundesärztekammer betonen, dass lebenserhaltende Behandlungen nur dann fortgeführt werden dürfen, wenn sie dem Wunsch der Patientin entsprechen und medizinisch indiziert sind (Bundesärztekammer, 2011). Das bedeutet: Wenn eine Maßnahme nicht mehr zum Ziel führt oder mehr Leid verursacht als Nutzen bringt, kann und darf sie beendet werden wenn der Patientenwille nachvollziehbar ermittelt ist, sei es über frühere Äußerungen, Wertvorstellungen oder Gespräche mit Angehörigen.
Diese drei Faktoren – Nutzen, Belastung und Wille – bilden zusammen das Fundament einer professionellen Entscheidungsfindung. Sie sind keine isolierten Kriterien, sondern ein Dreiklang, der Therapeut:innen zwingt, das Gesamtbild zu betrachten statt einzelne Aspekte zu überbetonen. Ein hoher Nutzen kann eine moderate Belastung rechtfertigen; eine enorme Belastung kann eine geringe Nutzenperspektive unmöglich machen. Und der Patientenwille kann jede klinische Überlegung überstimmen, solange er inhaltlich klar erkennbar ist. Durch die Umsetzung dieser Logik entsteht ein Entscheidungsprozess, der nicht auf Automatismen basiert, sondern auf Clinical Reasoning: Bewertung die medizinische Lage, Zuordnung in den Lebenskontext und das Zusammenführend aller Informationen zu einer Entscheidung, die fachlich tragfähig und menschlich respektvoll ist.
Strukturiertes Clinical Reasoning macht sichtbar, dass Dialyse nur eine von mehreren möglichen Therapieformen ist – und dass sich im Verlauf des Lebens andere Optionen als stimmiger erweisen können.
Konservatives Management als Therapieoption
Eine dieser Optionen ist das konservative Management, das häufig zu spät oder missverständlich in die Überlegungen einbezogen wird. Wenn Menschen am Lebensende begleitet werden, stellt sich die Frage, ob die Fortsetzung der Dialyse tatsächlich noch im Einklang mit den Zielen und Möglichkeiten dieses Menschen steht. Und genau hier entsteht ein häufiges Missverständnis: Viele Angehörige – und oft auch Behandelnde – verbinden das Ende der Dialyse mit der Vorstellung, „nichts mehr zu tun“. Dieser Gedanke ist emotional nachvollziehbar, aber fachlich falsch. Konservatives Management bedeutet nicht das Weglassen von Behandlung, sondern eine veränderte therapeutische Ausrichtung. Sie ersetzt zwar nicht die Organfunktion – und ja, viele Menschen sterben im Verlauf ihrer terminalen Niereninsuffizienz –, aber sie richtet die Versorgung auf das aus, was in dieser Lebensphase wirklich erreichbar und sinnvoll ist: Symptome lindern, Stabilität schaffen, Energie erhalten und ein ruhiges, stimmiges Lebensende ermöglichen.
Konservative Therapie ist kein passiver Prozess. Sie ist eine aktive, medizinisch strukturierte Form der palliativen Versorgung. Dazu gehören die Regulierung von Flüssigkeit und Elektrolyten, die Behandlung von Atemnot, Übelkeit oder Juckreiz, die Unterstützung des Kreislaufs, die engmaschige Überwachung des Allgemeinzustands und eine konsequente Ausrichtung auf das Wohlbefinden. In vielen Situationen bietet dieser Ansatz eine höhere Lebensqualität als die Fortsetzung der Dialyse, weil er nicht in die physiologischen Reservegrenzen eingreift, die am Lebensende so empfindlich geworden sind. Die palliativnephrologische Literatur zeigt, dass konservatives Management für bestimmte Patient:innen nicht „weniger“, sondern „anders sinnvoll“ ist – besonders dann, wenn die Dialyse keinen relevanten funktionellen oder prognostischen Vorteil mehr bringt (Porteri, 2022).
Internationale Leitlinien wie KDIGO und die RPA/ASN-Guideline betonen deshalb, dass Dialyse nicht automatisch die beste Option ist. Beide Dokumente stellen klar: Konservatives Management ist eine vollwertige Therapieform, wenn der Gesamtzustand, die Belastung oder der Patientenwille gegen eine Fortsetzung der Dialyse sprechen (Chan, 2019; Galla, 2010). Auch in Deutschland findet sich diese Haltung zunehmend wieder, insbesondere in der S3-Leitlinie Palliativmedizin und in den Grundsätzen der Bundesärztekammer, die betonen, dass medizinische Maßnahmen am Lebensende nur dann fortgeführt werden dürfen, wenn sie indiziert sind und tatsächlich zu den angestrebten Zielen beitragen (Bundesärztekammer, 2011).
Ein zentraler Vorteil des konservativen Ansatzes ist seine Orientierung am inneren Tempo des Menschen. Die Dialyse folgt einem festen therapeutischen Rhythmus, der über viele Jahre sinnvoll und tragbar ist, am Lebensende jedoch oft nicht mehr zum Kräftehaushalt und zur Belastbarkeit passt. Konservatives Management dagegen fragt: „Was hilft diesem Menschen heute – an diesem Punkt, in diesem Zustand, mit seinen individuellen Zielen?“ Genau deshalb erleben viele Patient:innen und Angehörige diese Form der Therapie als entlastend. Sie schenkt Zeit, Ruhe und Konzentration auf das, was im Alltag wirklich trägt: ein Gespräch, eine Berührung, eine gemeinsame Mahlzeit, ein guter Tag, der nicht mehr von der Dialysetaktung dominiert wird.
Zu diesem inneren Tempo gehört auch die Einsicht, dass das Sterben selbst ein Prozess ist – kein Ereignis. Wer in diesen Prozess therapeutisch eingreift, braucht deshalb eine gute, medizinisch und ethisch stimmige Begründung. Jede Behandlung muss sich daran messen lassen, ob sie diesen Prozess unterstützt, stört oder überlagert. Konservative Therapie nimmt diesen Prozess ernst. Viele Menschen erleben den Übergang vom dialysezentrierten Denken zu einem konservativ-palliativen Vorgehen als eine Rückkehr zu einem Rhythmus, der dem Menschen – und nicht dem Verfahren – folgt.
Konservatives Management bedeutet jedoch nicht, dass Dialyse grundsätzlich ausgeschlossen wäre. In bestimmten Situationen kann eine einzelne Dialysesitzung zur gezielten Symptomlinderung sinnvoll sein, etwa bei schwerer Überwässerung oder ausgeprägter Azidose. In solchen Fällen ändert sich die therapeutische Zielsetzung: Es geht nicht mehr um chronische Stabilisierung, sondern um eine kurzfristige palliative Intervention.
Damit ist konservatives Management keine „Option zweiter Klasse“, sondern eine klare therapeutische Entscheidung. Wenn die Dialyse keinen tragfähigen Nutzen mehr bietet, wird die Ausrichtung auf Lebensqualität zur fachlich sinnvolleren und menschlich stimmigeren Option. Medizinische Verantwortung zeigt sich darin, das Verfahren zu wählen, das dem Menschen in dieser Phase gerecht wird – sei es die Fortführung der Dialyse oder der bewusst gewählte Übergang in ein konservatives Management. Diese Festlegung muss im Verlauf immer wieder neu geprüft werden
Warum Dialyse regelmäßig neu bewertet werden muss
Dialyse gehört zu den wenigen medizinischen Therapien, die über Jahre hinweg in eine starke Routine eingebunden sind. Gerade deshalb besteht die Gefahr, dass ihr Einsatz als selbstverständlich wahrgenommen wird – unabhängig davon, wie sich der Gesundheitszustand eines Menschen verändert. Eine Re-Evaluation dient dazu, diese Routine zu durchbrechen und zu prüfen, ob die Voraussetzungen, die die Dialyse ursprünglich gerechtfertigt haben, heute noch bestehen. Dabei geht es ausdrücklich nicht um Triage-Überlegungen, Ressourcenschonung oder Kostendiskussionen, sondern ausschließlich darum, der individuellen Situation eines Menschen gerecht zu werden. Die Neubewertung richtet sich nicht am System aus, sondern am Menschen, seinem Zustand, seinen Zielen und seiner Belastbarkeit.
Internationale Leitlinien wie KDIGO und die RPA/ASN-Guideline betonen einheitlich, dass Dialyse nicht als fortlaufender Automatismus betrachtet werden darf (Chan, 2019; Galla, 2010). Sie beschreiben klare klinische Auslöser wie Funktionsverluste, wiederholte Krankenhausaufenthalte oder kaum noch tolerierte Behandlungen, die eine erneute Indikationsprüfung notwendig machen.
Re-Evaluation bedeutet nicht, die Dialyse grundsätzlich infrage zu stellen, sondern den Blick auf den aktuellen Zustand und die Belastbarkeit der Patient:innen zu richten. Entscheidend ist die Frage, ob die Dialyse unter den veränderten Bedingungen noch das erreicht, was sie erreichen soll: Stabilität, Symptomkontrolle oder eine relevante Verbesserung der Lebensqualität. Wenn die Behandlung mehr Kraft kostet, als sie zurückgibt, oder wenn die physiologische Reaktion deutlich instabiler wird als früher, ist eine Neubewertung medizinisch geboten.
Ein wesentlicher Teil dieser Neubewertung ist die Klärung der Ziele und Wünsche. Zielsetzungen verändern sich im Verlauf einer Erkrankung, oft unmerklich und ohne dass Therapeut:innen und Betroffene dies ausdrücklich formulieren. Eine Person, die früher den Wunsch nach maximaler Therapie geäußert hat, kann heute Nähe, Ruhe oder häusliche Orientierung höher gewichten als die Fortführung einer belastenden Behandlung. Eine Dialyse, die früher eindeutig indiziert war, kann heute ihre fachliche Grundlage verloren haben. Die Re-Evaluation schafft Raum, diese Veränderungen zu erkennen und in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.
Für Behandelnde bedeutet dies, Routinen bewusst und aktiv zu hinterfragen und eine Entscheidung nicht allein deshalb fortzuführen, weil sie „immer so war“. Die Bundesärztekammer betont, dass lebenserhaltende Maßnahmen nur dann fortgeführt werden dürfen, wenn sie indiziert sind und dem Willen der Patientin oder des Patienten entsprechen (Bundesärztekammer, 2011). Eine dokumentierte, nachvollziehbare Re-Evaluation ist deshalb ein zentraler Bestandteil professioneller Verantwortung.
Damit schafft die Re-Evaluation die Grundlage für die Entscheidung, ob eine Fortführung der Dialyse noch gerechtfertigt ist oder ob ein Wechsel der Therapieform angezeigt ist. In manchen Situationen führt diese Neubewertung zu dem Ergebnis, dass eine Fortführung der Dialyse nicht mehr gerechtfertigt ist und die Frage nach einem möglichen Therapieabbruch konkret beantwortet werden muss.
Wann ein Dialyseabbruch gerechtfertigt ist
Die Entscheidung, eine Dialyse zu beenden, gehört zu den komplexen Situationen, in denen medizinische, ethische und rechtliche Aspekte sorgfältig zusammengeführt werden müssen. Sie ist selten das Ergebnis eines einzelnen Moments, sondern folgt einer strukturierten Prüfung medizinischer, ethischer und rechtlicher Voraussetzungen. Solche Entscheidungen sind idealerweise Teil eines interprofessionellen Prozesses, in dem Nephrologie, Palliativmedizin, Pflege, Therapie, Hausarztmedizin und Angehörige gemeinsam abwägen, was medizinisch möglich und ethisch gerechtfertigt ist. Shared Decision Making ist dabei nicht ein „Modell“, sondern die einzige Methode, um medizinische Fakten, Behandlungslast, Ziele des Menschen und den mutmaßlichen Willen in eine verantwortbare Entscheidung zu überführen.
Ein Dialyseabbruch wird fachlich vor allem dann relevant, wenn die beiden grundlegenden Voraussetzungen einer Behandlung – die medizinische Indikation und der Patientenwille – nicht mehr gemeinsam erfüllt sind. Eine medizinische Indikation entfällt, wenn die Dialyse das angestrebte therapeutische Ziel – Stabilisierung oder Verbesserung der Lebensqualität – nicht mehr erreicht. Dies kann der Fall sein, wenn die Belastbarkeit deutlich abgenommen hat, Komplikationen sich häufen oder die Behandlung vom Körper kaum noch toleriert wird. Internationale Leitlinien betonen, dass unter solchen Bedingungen die Fortführung der Dialyse nicht mehr als sinnvolle Therapie, sondern als unverhältnismäßige Belastung gilt (Chan, 2019; Porteri, 2022). Eine Maßnahme, die ihren Zweck nicht mehr erfüllt, verliert damit ihre medizinische Begründung.
Der zweite zentrale Aspekt ist der Wille der Patientin oder des Patienten. Kein Eingriff darf gegen den Willen eines Menschen erfolgen, und keine lebenserhaltende Maßnahme ist verpflichtend, wenn sie diesem Willen widerspricht. Dies gilt gleichermaßen für die Fortführung wie für die Beendigung einer Dialyse. In vielen Situationen ist der Wille jedoch nicht mehr direkt erfragbar. Dann verlangt das deutsche Recht eine systematische Ermittlung des mutmaßlichen Willens – nicht als intuitive Schätzung, sondern als strukturierte Rekonstruktion der Wertvorstellungen und früher geäußerten Wünsche eines Menschen. Maßgeblich sind frühere Äußerungen, Wertvorstellungen, religiöse Überzeugungen, Grundhaltungen und die Einschätzungen nahestehender Personen.
Indikation und Wille wirken nicht unabhängig voneinander, sondern ergänzen sich. Eine Behandlung ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie gleichzeitig medizinisch indiziert und gewollt ist. Fehlt einer dieser beiden Pfeiler, besteht keine Verpflichtung zur Fortführung – und häufig nicht einmal ein Recht dazu. Wie in den Grundsätzen der Bundesärztekammer festgehalten, darf eine medizinische Maßnahme nicht durchgeführt werden, wenn sie entweder nicht indiziert ist oder dem Willen der Patientin bzw. des Patienten widerspricht (Bundesärztekammer, 2011).
Rechtlich und klinisch entscheidend ist deshalb die Nachvollziehbarkeit des Entscheidungsprozesses. Ein Dialyseabbruch entsteht nicht aus Unsicherheit oder Überforderung, sondern aus einem dokumentierten, interprofessionell abgestimmten Entscheidungsweg. Behandelnde prüfen die Belastbarkeit, beobachten die klinische Entwicklung, analysieren die Wirkung der bisherigen Therapie und stellen die Ziele des Menschen in den Mittelpunkt. Angehörige werden einbezogen, weil sie oft entscheidende Hinweise auf den mutmaßlichen Willen geben und die Konsequenzen der Entscheidung im Alltag tragen. Der Abbruch ist damit nicht das Ende einer Behandlung, sondern der Übergang zu einer anderen Form medizinischer Versorgung.
Sobald die Dialyse beendet wird, beginnt die palliativmedizinische Begleitung. Sie richtet sich nicht auf Organersatz, sondern auf die Linderung von Symptomen und die Stabilisierung der verbleibenden Kräfte. Schmerztherapie, Atemnotlinderung, Flüssigkeitsmanagement, Medikamentenreduktion, Behandlung von Unruhe und psychosoziale Unterstützung treten in den Vordergrund. Der Mensch bleibt im Zentrum – nur die therapeutische Zielsetzung ändert sich. Diese Umstellung ist kein Verzicht, sondern eine bewusste Entscheidung, die Belastung zu reduzieren und die Lebensqualität in den verbleibenden Tagen oder Wochen zu verbessern.
Ein Dialyseabbruch ist deshalb gerechtfertigt, wenn die Fortführung der Therapie keinen medizinischen Sinn mehr hat oder nicht dem Willen des Menschen entspricht. Die Entscheidung ist weder defizitär noch passiv, sondern eine fachlich begründete Handlung im Einklang mit medizinischen, rechtlichen und ethischen Prinzipien. Sie orientiert sich nicht an Routinen oder technischen Möglichkeiten, sondern an dem, was in der aktuellen Situation für den Menschen vertretbar und sinnvoll ist.
Familiäre Dynamiken und emotionale Belastungen
Die Entscheidung, eine Dialyse fortzuführen oder zu beenden, betrifft nicht nur die medizinische Ebene. Sie wirkt immer auch in das familiäre System hinein. Angehörige erleben solche Situationen häufig als emotional hochkomplex, weil sich medizinische Entwicklungen, persönliche Bindungen, innere Loyalitäten und individuelle Erfahrungen mit Krankheit überlagern. Die familiäre Dynamik ist ein zentraler Bestandteil der Versorgungssituation, der den Entscheidungsprozess maßgeblich beeinflusst.
Viele Angehörige haben die Dialyse über Jahre als stabilen Bestandteil des Alltags erlebt. Sie haben Transporte organisiert, Wartezeiten begleitet, körperliche Veränderungen beobachtet und Wochen um die Behandlungstermine herum strukturiert. Wenn sich der Zustand oder Wille des Patienten oder der Patientin verändert, kollidiert dieses vertraute Bild mit der neuen Realität. Die Vorstellung, die Dialyse zu beenden und damit auch das Fortschreiten der terminalen Erkrankung anzunehmen, ist für viele Angehörige zunächst unvorstellbar. Das führt häufiger zu emotionaler Überforderung als zu bewusster Ablehnung einer Entscheidung. Aussagen wie „Er hat es doch immer geschafft“ oder „Ohne Dialyse stirbt man doch sofort“ spiegeln nicht fehlende Einsicht wider, sondern die Schwierigkeit, einen vertrauten Bezugsrahmen aufzugeben.
Hinzu kommt, dass Angehörige sich häufig in einer Rolle sehen, in der sie vermeintlich „für“ die betroffene Person entscheiden müssten – obwohl dies rechtlich meist nicht ihre Aufgabe ist. Nur wenn sie als gesetzliche Betreuer:innen mit entsprechendem Aufgabenkreis oder durch eine Vorsorgevollmacht für Gesundheitsangelegenheiten eingesetzt sind, werden sie tatsächlich zu rechtlich handelnden Personen. Doch selbst dann entscheiden sie nicht nach eigenen Vorstellungen, sondern ausschließlich nach dem mutmaßlichen Willen der Patientin oder des Patienten (§ 1901a BGB).
Diese Differenz ist vielen nicht bewusst – und selbst wenn sie verstanden wird, verlangt sie eine Abstraktionsfähigkeit und Distanzierung, die Angehörigen wegen der emotionalen Nähe oft nur begrenzt möglich ist. Was im klinischen Alltag als Teil des professionellen Clinical Reasoning erlernt wird, ist für Angehörige eine kognitive und emotionale Herausforderung: Sie sollen sich von ihrer eigenen Sorge lösen und stattdessen rekonstruieren, was die betroffene Person selbst gewollt hätte. Diese Anforderung überfordert viele, nicht aus fehlendem Verständnis, sondern weil die notwendige innere Distanz in einer familiären Beziehung kaum erreichbar ist.
Dies führt leicht zu dem Gefühl, Verantwortung zu tragen, die sich wie eine eigene Entscheidung über Leben und Tod anfühlt, obwohl juristisch eine Willensrekonstruktion gefordert ist. Aus dieser Wahrnehmung entstehen Schuldgefühle, die sich nicht aus medizinischen Fakten, sondern aus menschlicher Bindung speisen. Angehörige fürchten, etwas zu unterlassen, das „Leben retten“ könnte, oder etwas zu veranlassen, das „Schaden zufügen“ könnte. Diese innere Spannung ist einer der häufigsten Gründe, warum Gespräche stocken oder Entscheidungen verzögert werden.
Ein weiterer Aspekt betrifft den zeitlichen Verlauf. Für Angehörige wirkt das Ende einer Dialyse oft wie ein abrupter Schritt, obwohl sich der gesundheitliche Zustand der betroffenen Person meist über Wochen oder Monate schleichend verändert hat. Diese langsame Entwicklung wird im familiären Alltag häufig kaum bemerkt. Neuropsychologisch ist das nachvollziehbar: Menschen passen sich fortlaufend an kleine, graduelle Veränderungen an und integrieren sie unbewusst in ihr Alltagsbild. Erst im Rückblick oder im Vergleich zu früheren Zuständen wird sichtbar, wie deutlich der Verlauf tatsächlich war. Die medizinische Dynamik hingegen entfaltet sich kontinuierlich – ein zeitlicher Unterschied, der im familiären Erleben leicht zu einer Diskrepanz zwischen subjektivem Eindruck und klinischer Realität führt.
Die Ausrichtung von Gesprächen auf konkrete Veränderungen – Funktionsverluste, Erschöpfung, wiederholte Komplikationen – kann helfen, die Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung und medizinischer Einschätzung zu überbrücken. Besonders hilfreich ist es, nicht nur über Prognosen zu sprechen, sondern das tatsächliche Erleben sowohl der Patientin oder des Patienten als auch der behandelnden Fachpersonen einzubeziehen: Wie viel Kraft bleibt erkennbar? Wie wirkt die Behandlung konkret auf den Tagesverlauf? Welche Ziele scheinen aus klinischer Sicht überhaupt noch erreichbar?
Konflikte innerhalb der Familie können aus unterschiedlichen Sichtweisen entstehen, nicht aus grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten. Manche Angehörige orientieren sich stärker an früheren Aussagen des Patienten, andere stärker an der aktuellen Belastung. Einige betonen religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, andere den Wunsch nach Ruhe und Belastungsreduktion. Diese Divergenzen spiegeln eher die Vielfalt individueller Bindungen wider als Unstimmigkeiten über die medizinische Situation. Hier ist es hilfreich, die Diskussion konsequent auf den mutmaßlichen Willen auszurichten. Nicht „Was wollen wir für ihn?“, sondern: „Was hätte er oder sie – in diesem Zustand – wahrscheinlich gewollt?“
Auch Schuldgefühle spielen eine wesentliche Rolle. Angehörige befürchten oft, eine Entscheidung gegen das Leben zu treffen. Diese Sorge wird durch gesellschaftliche Bilder verstärkt, in denen medizinische Interventionen als aktiver Schutz des Lebens gelten und das Beenden einer Behandlung als „Aufgeben“ missverstanden wird. In der Realität ist das Gegenteil richtig: Das Festhalten an einer belastenden Therapie kann eine Form des Nichtloslassenkönnens sein, während der Verzicht auf eine nicht mehr sinnvoll begründbare Behandlung ein Ausdruck von Respekt, Fürsorge und Wahrung der Autonomie ist. Genau hier hilft eine klare medizinische Rahmung: Die Entscheidung basiert nicht auf Emotionen oder Ängsten, sondern auf Indikation, Belastbarkeit und dem Willen der betroffenen Person.
Schließlich wirkt sich die familiäre Situation auch auf das Behandlungsteam aus. Konflikte, Ambivalenzen oder Unsicherheiten der Angehörigen erschweren Entscheidungen und Gespräche. Gleichzeitig kann ein gut strukturierter, interprofessioneller Prozess entlastend wirken: Pflege, ärztliche Dienste, Palliativteams, Therapeut:innen und Sozialdienste tragen gemeinsam dazu bei, einen transparenten Entscheidungsrahmen zu schaffen. Familien erleben dies häufig als stabilisierend, weil die Entscheidung nicht auf einzelne Schultern fällt, sondern in einem nachvollziehbaren Kontext getroffen wird.
Aufgaben und Verantwortung der Behandelnden
Die Begleitung von Patientinnen und Patienten, deren Erkrankungssituation die Frage nach Beginn, Fortführung oder Beendigung einer Dialyse aufwirft, verlangt von Behandelnden eine besondere Form professioneller Haltung. Solche Entscheidungen entstehen nicht durch technische Parameter allein, sondern im Zusammenspiel aus medizinischer Einschätzung, ethischer Abwägung und der Fähigkeit, komplexe Situationen verständlich zu kommunizieren. Die Rolle der Fachpersonen ist dabei klar definiert: Sie tragen die Verantwortung für die medizinische Einordnung und Begründung einer Maßnahme, strukturieren den Entscheidungsprozess und schaffen den Rahmen, in dem Patient:innen und Angehörige die Situation verstehen und sich informiert, selbstgewusst und gleichberechtigt in den Entscheidungsprozess einbringen können. Diese Verantwortung umfasst sowohl die klinische Analyse als auch die Kommunikation der Konsequenzen.
Ein zentraler Bestandteil dieser Rolle ist die Fähigkeit, die Entwicklung einer Erkrankung realistisch einzuordnen und transparent zu machen. Behandelnde sehen Funktionsverluste, zunehmende Erschöpfbarkeit, Komplikationen und Reaktionen auf Behandlungen oft früher und klarer als Angehörige. Diese Diskrepanz ist kein Versagen, sondern strukturell erklärbar: Fachpersonen haben Erfahrung, Vergleichswerte, klinische Mustererkennung und eine Distanz, die es ihnen ermöglicht, Entwicklungen nüchtern einzuordnen. Aufgabe der Behandelnden ist es, diese klinische Perspektive so zu vermitteln, dass sie für Angehörige nachvollziehbar bleibt, ohne sie zu überfordern oder in eine Entscheidungsrolle zu drängen, die ihnen nicht zusteht.
Dabei ist die Kommunikation nicht nur Informationsvermittlung, sondern Teil der therapeutischen Verantwortung. Beschönigungen oder Ausweichmanöver können – auch wenn sie gut gemeint sind – zu Missverständnissen führen, die den Entscheidungsprozess erheblich erschweren. Gerade am Lebensende können indirekte Formulierungen, unklare Prognosen oder das Ausweichen vor der Realität dazu führen, dass Angehörige den Ernst der Situation nicht erfassen oder sich nicht ernst genommen fühlen. Beides kann das Vertrauen in die Behandlung beeinträchtigen und den weiteren Prozess deutlich erschweren. Die Aufgabe der Behandelnden besteht darin, die Situation klar zu benennen, ohne Angst zu erzeugen, und gleichzeitig den Raum zu halten, in dem Angehörige ihre Fragen, Sorgen und emotionalen Reaktionen äußern können. Professionelle Kommunikation bedeutet dabei nicht, jede Frage sofort beantworten zu müssen, sondern einen strukturierten Prozess zu ermöglichen, in dem Unsicherheiten Schritt für Schritt bearbeitet werden.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die ethische Belastung, die Behandelnde tragen. Die Empfehlung, eine Dialyse zu beenden, ist auch für erfahrene Fachpersonen emotional belastend. Sie verlangt Sicherheit in der klinischen Einschätzung, Klarheit in der Begründung und Stabilität im Team. Es ist Aufgabe der Behandelnden, diese Entscheidung nicht als Ausdruck persönlichen Versagens zu erleben, sondern als Teil eines konsequenten clinical reasoning: Wenn eine Therapie ihren Nutzen verliert, überwiegt oder schadet, ist die Neubewertung kein Ausdruck von Aufgabe, sondern von Verantwortung. Die Fähigkeit, diese Perspektive zu halten und zu vermitteln, schützt sowohl die Patient:innen als auch das Behandlungsteam vor therapeutischem Aktionismus.
Hinzu kommt die persönliche Dimension, die auch für Behandelnde oft schwerer wiegt als die fachliche. Diese Situationen berühren nicht nur die professionelle Rolle, sondern auch die eigene Menschlichkeit. Wer schwer kranke Patientinnen und Patienten über längere Zeit und in existenziellen Situationen begleitet, entwickelt Bindung, Verantwortung und ein inneres Bild davon, wie Stabilität aussehen könnte. Wenn die Neubewertung einer Therapie notwendig wird, geraten diese inneren Bezugspunkte unter Druck. Das erfordert nicht nur klinische Klarheit, sondern auch eine Form emotionaler Stabilität, die im Berufsalltag selten ausdrücklich thematisiert wird – und ebenso selten leicht zu erlernen ist. Menschen bringen hierfür unterschiedliche Voraussetzungen mit, und diese Form von Stabilität entsteht nicht allein durch theoretisches Wissen, sondern durch Erfahrung, Reflexion und das wiederholte Aushalten schwieriger Situationen.
Professionelle Resilienz bedeutet in diesem Kontext nicht Distanz oder Abhärtung, sondern die Fähigkeit, die eigene emotionale Reaktion wahrzunehmen, ohne dass sie die medizinische Einschätzung dominiert. Viele Behandelnde erleben in diesen Situationen Konflikte zwischen der fachlichen Logik und dem eigenen Bedürfnis, weiter zu unterstützen, zu stabilisieren oder ‚etwas zu tun‘. Diese Spannung ist Ausdruck dessen, dass therapeutische Arbeit immer auch persönliche Arbeit ist. Ein reflektierter Umgang damit schützt nicht nur die Patient:innen, sondern auch die Behandelnden selbst davor, in Überforderung, Schuldgefühlen oder Aktionismus gedrängt zu werden.
Zur Verantwortung der Behandelnden gehört zudem, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu kennen und korrekt anzuwenden. Die Entscheidung, eine Dialyse zu beenden, setzt voraus, dass die medizinische Indikation nicht mehr gegeben ist oder der Wille des Patienten oder der Patientin dem Eingriff widerspricht. Behandelnde müssen prüfen, ob eine Patientenverfügung existiert, ob eine Vorsorgevollmacht vorliegt oder ob ein:e Betreuer:in eingesetzt ist. Die Willensrekonstruktion erfolgt nicht intuitiv, sondern strukturiert: anhand früherer Äußerungen, Wertvorstellungen und Einschätzungen nahestehender Personen. Diese rechtliche Architektur schützt die Autonomie der Patient:innen und entlastet die Angehörigen – vorausgesetzt, sie wird konsequent angewendet.
Grenzen spielen in dieser Situation eine ebenso große Rolle. Behandelnde sind nicht dafür verantwortlich, Angehörige von einer bestimmten Entscheidung zu überzeugen. Sie haben nicht die Aufgabe, familiäre Konflikte zu lösen oder emotionale Auseinandersetzungen zu moderieren. Ihre Aufgabe ist es, die medizinischen Fakten klarzustellen, die Indikation zu prüfen, die Ziele zu klären und einen Rahmen zu schaffen, in dem Angehörige den Prozess verstehen können. Der Entscheidungsprozess ist interprofessionell – viele Perspektiven fließen ein –, aber die medizinische Verantwortung liegt am Ende bei einer einzelnen fachlich zuständigen Person. Diese Person trifft die Entscheidung nicht im Alleingang, sondern vollzieht das, was sich aus der Gesamtsituation ergibt: aus Indikation, Belastbarkeit, mutmaßlichem Willen und dem interprofessionellen Austausch.
Gerade diese klare Zuordnung schützt Patient:innen und Angehörige. Sie macht deutlich, dass die Verantwortung nicht auf das familiäre Umfeld übertragen wird und keine moralische Last entsteht, die dort nicht hingehört. Gleichzeitig entlastet sie Behandelnde, weil die Entscheidung nicht Ausdruck persönlicher Haltung ist, sondern Ergebnis eines strukturierten, rechtlich und medizinisch abgesicherten Prozesses.
Schließlich ist ein professionelles Erwartungsmanagement entscheidend. Weder Dialyse noch konservatives Management können in einer fortgeschrittenen Situation Sicherheit im Sinne eines „richtigen Weges“ garantieren. Was Behandelnde leisten können, ist Orientierung: Sie können aufzeigen, wie sich der Zustand entwickelt, welche Effekte realistisch zu erwarten sind, welche Belastungen entstehen und welche Ziele noch erreichbar scheinen. Diese Orientierung ist oft das, was Angehörige am dringendsten brauchen. Sie schafft Klarheit, reduziert Schuldgefühle und ermöglicht Entscheidungen, die auf Verständnis beruhen statt auf Druck, Angst oder falschen Annahmen.
Internationale Sichtweisen auf Dialyse am Lebensende
Die Frage, ob eine Dialyse am Lebensende fortgeführt oder beendet werden sollte, wird international sehr unterschiedlich gehandhabt. Zwar stimmen medizinische Leitlinien in vielen Grundprinzipien überein – insbesondere in Bezug auf Indikation, Prognose und Patient:innenwille –, doch variieren die konkrete Umsetzung, die Gesprächskultur und die gesellschaftlichen Erwartungen erheblich zwischen Ländern und Gesundheitssystemen. Diese Unterschiede zu kennen, hilft nicht nur, die eigene deutsche Praxis präziser einzuordnen und den realen Handlungsspielraum zu verstehen. Sie sind ebenso wesentlich, um die Entscheidungslogik von Patient:innen mit multinationalem oder kulturell vielfältigem Hintergrund nachvollziehen zu können. Wer solche Entscheidungen begleiten will, muss verstehen, wie stark Krankheitsvorstellungen, Familienrollen und moralische Erwartungen kulturell geprägt sind.
USA – Autonomie als Leitprinzip
In den USA steht die individuelle Autonomie traditionell besonders stark im Zentrum. Die RPA/ASN-Guidelines (Galla, 2010) formulieren eindeutig, dass Patient:innen jederzeit das Recht haben, eine Dialyse zu beenden – unabhängig von der medizinischen Indikation. Die Indikation spielt hingegen für Beginn und Fortführung eine zentrale Rolle: Eine Dialyse darf nur durchgeführt werden, wenn sie einen realistischen therapeutischen Nutzen erwarten lässt. Ist dies nicht der Fall, besteht keine medizinische Indikation. In der internationalen Literatur beschreibt man eine solche Situation als ‚medizinisch aussichtslose Behandlung‘: eine Maßnahme, die zwar technisch möglich ist, deren therapeutisches Ziel aber nicht mehr erreichbar ist und deren Belastungen den potenziellen Nutzen übersteigen. Maßgeblich ist daher nicht die technische Machbarkeit, sondern die Frage, ob die Behandlung für die betroffene Person noch einen realistischen Nutzen hat. Diese Autonomieorientierung führt zu einer Selbstverständlichkeit im Umgang mit Dialyseabbrüchen, die in anderen Ländern weniger ausgeprägt ist.
Großbritannien, Kanada, Australien – therapeutische Proportionalität
In Großbritannien, Kanada und Australien dominiert das Konzept der „therapeutischen Proportionalität“. Eine Behandlung ist nur dann gerechtfertigt, wenn Nutzen und Belastung in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Dieser Gedanke ist tief in palliativmedizinischen Leitlinien verankert. Dadurch wird die Option eines konservativen Managements häufig deutlich früher und proaktiver thematisiert als in Deutschland. Entscheidungen über Fortführung oder Beendigung der Dialyse sind dort weniger ein Ausnahmefall, sondern fester Bestandteil eines patientenzentrierten Managements, das von Beginn an auf Zielklärung, Prognose und Belastbarkeit ausgerichtet ist.
Südeuropa und Osteuropa – starke familiäre Rolle, zurückhaltendere Therapiebegrenzung
In Teilen Südeuropas und Osteuropas ist die familiäre Einbindung traditionell stärker ausgeprägt als die Orientierung an individueller Autonomie. Angehörige betrachten sich häufig als aktiv verantwortliche Entscheidungsträger – nicht nur beratend, sondern mitgestaltend. Studien zeigen, dass in diesen Regionen Familien oft erwarten, dass „alles Mögliche“ getan wird, und Behandelnde erleben einen hohen familiären Erwartungsdruck, lebenserhaltende Maßnahmen möglichst lange fortzuführen, selbst dann, wenn medizinisch nur noch geringe Erfolgsaussichten bestehen (Gysels et al., 2012; Curković et al., 2024). In einigen dieser Gesundheitssysteme werden Dialyse und andere intensiv unterstützende Maßnahmen daher häufiger über den Punkt hinaus weitergeführt, an dem sie medizinisch indiziert sind.
Hinzu kommen strukturelle Faktoren: In Teilen Osteuropas sind palliative Versorgungsstrukturen weniger etabliert, und Behandelnde berichten häufiger von rechtlicher Unsicherheit oder Sorge, Therapieabbrüche könnten missverstanden oder rechtlich angreifbar sein. Das Ergebnis ist ein Spannungsfeld zwischen professioneller Einschätzung und familiär-kulturellen Erwartungen, das Entscheidungen erschwert und oft zu einer Fortsetzung der Behandlung über die medizinische Indikation hinaus führt.
Naher Osten und Teile Asiens – moralische Pflicht zur Lebensrettung
In Ländern des Nahen Ostens und in vielen asiatischen Regionen zeigt sich ein kulturell deutlich anderes Muster als in westlich geprägten Gesundheitssystemen. Der kollektive Wert des Lebens und die moralische Pflicht, jede mögliche Form der Lebensrettung auszuschöpfen, besitzen dort eine hohe Bedeutung. Mehrere Übersichtsarbeiten zeigen, dass Entscheidungen über eine Begrenzung oder Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen häufig zurückhaltend getroffen werden, weil das Abbrechen einer Behandlung als moralisch belastend oder gesellschaftlich unerwünscht empfunden wird (Abdel-Khalek et al., 2008; Applied Nursing Research, 2023). Dialyseabbrüche werden daher seltener offen angesprochen – nicht primär aus medizinischen Gründen, sondern aus Sorge, religiöse oder familiäre Erwartungen zu verletzen.
Ein weiterer zentraler Unterschied betrifft die Art der Entscheidungsfindung: In vielen dieser Kulturen spielt die Familie eine dominierende Rolle. Entscheidungen werden nicht ausschließlich von der betroffenen Person selbst getroffen, sondern häufig gemeinsam im Familienverband. Der Wunsch, Belastungen gemeinsam zu tragen und die Verantwortung nicht bei einer einzelnen Person zu belassen, führt dazu, dass Angehörige stark in den Prozess eingebunden sind und den Rahmen der Entscheidung wesentlich mitprägen. Studien zeigen, dass dies dazu führen kann, dass lebenserhaltende Maßnahmen länger fortgeführt werden, auch wenn der medizinische Nutzen bereits gering ist (Applied Nursing Research, 2023). Moderne medizinethische Kodizes dieser Regionen erlauben zwar klar das Beenden unverhältnismäßiger Maßnahmen, ihre Umsetzung bleibt im klinischen Alltag jedoch deutlich zurückhaltender als in westlich geprägten Systemen (Abdel-Khalek et al., 2008).
Deutschland im internationalen Vergleich – klare Grundlage, aber zögerliche Umsetzung
Deutschland nimmt im internationalen Vergleich eine besondere Stellung ein. Die rechtlichen und ethischen Grundlagen sind ungewöhnlich klar: Die Unterscheidung zwischen indizierten und nicht indizierten Maßnahmen ist präzise definiert, medizinisch aussichtslose oder unverhältnismäßige Behandlungen dürfen nicht durchgeführt werden, und jede indizierte Behandlung kann aus autonomer Entscheidung beendet oder abgelehnt werden (BGH 2010; Bundesärztekammer 2011). Damit verfügt das deutsche Gesundheitssystem über eine besonders stabile Struktur, die sowohl die Patientenautonomie als auch die professionelle Verantwortung der Behandelnden schützt.
Internationale Vergleichsarbeiten zeigen, dass in Deutschland Gespräche über mögliche Therapiebegrenzungen häufig später geführt werden als in angloamerikanischen Gesundheitssystemen. Studien beschreiben die deutsche Gesprächskultur als eher zurückhaltend in der frühzeitigen Kommunikation über Prognose, Therapiezieländerung und End-of-Life-Planung (Gysels et al., 2012; Curkovic et al., 2024). Diese Zögerlichkeit erklärt sich nicht durch die Rechtslage, sondern durch kulturelle Faktoren: die Tabuisierung des Sterbens, die Sorge, Patient:innen oder Angehörige zu verunsichern, und die Angst, als „zu früh aufgebend“ oder übergriffig wahrgenommen zu werden. Die Folge ist, dass Entscheidungen oft erst dann getroffen werden, wenn die Belastung bereits hoch ist – nicht aufgrund medizinischer Unsicherheit, sondern aufgrund emotionaler Hürden.
Hinzu kommt die zunehmende kulturelle Vielfalt in der deutschen Versorgung. Viele Patient:innen und Angehörige interpretieren medizinische Empfehlungen vor dem Hintergrund eigener kultureller oder religiöser Vorstellungen. Für manche ist ein Therapieabbruch moralisch problematisch, für andere ein Tabu, für wieder andere eine Frage familiärer Konsensbildung. Diese Vielfalt kann Entscheidungen verzögern oder erschweren, macht aber auch deutlich, wie wichtig es ist, die eigene Struktur – Indikation, Nutzen, Wille – zu kennen und klar vermitteln zu können.
Fazit
International ist der Abbruch einer Dialyse kein Zeichen von therapeutischer Verweigerung oder Behandlungsabbruch, sondern ein regulärer Bestandteil verantwortlicher nephrologischer und palliativmedizinischer Versorgung. Deutschland verfügt über eine besonders klare ethisch-rechtliche Grundlage für solche Entscheidungen – sie wird jedoch klinisch zurückhaltend ausgeschöpft. Kulturelle und familiäre Hintergründe präägen stark die Wahrnehmung von Krankheit, Therapie und Sterben. Für die Praxis bedeutet das: Entscheidungen über Dialyse und ihr mögliches Ende müssen medizinisch klar begründet sein – und zugleich sensibel für die kulturellen Muster bleiben, die Patient:innen und Angehörige in diesen Prozess einbringen. Der internationale Vergleich legt zudem nahe, dass eine frühere, direktere und strukturierte Ansprache dieser Themen in Deutschland nicht nur möglich, sondern hilfreich wäre – medizinisch, kommunikativ und entlastend für alle Beteiligten
Kulturelle und religiöse Einflüsse auf Entscheidungen
Wenn Entscheidungen über die Fortführung oder Beendigung einer Dialyse anstehen, spielen religiöse Überzeugungen oft eine größere Rolle, als im medizinischen Alltag wahrgenommen wird. Viele Angehörige erleben die Situation nicht nur als medizinische Frage, sondern als moralische oder spirituelle Herausforderung. Gerade deshalb ist es wichtig zu verstehen, wie die drei großen monotheistischen Religionen diese Situation einordnen. Trotz unterschiedlicher Traditionen nähern sie sich heute stark an – insbesondere im Gedanken der therapeutischen Angemessenheit: Eine Behandlung ist moralisch geboten, wenn sie Nutzen bringt und zumutbar ist; sie darf beendet werden, wenn sie das Sterben lediglich verlängert oder zur unverhältnismäßigen Belastung wird. Dieser Gedanke bildet in allen drei Traditionen eine ethische Grundstruktur (vgl. Reichert, 2008).
Christliche Perspektiven
Im Christentum steht der Wert des Lebens im Mittelpunkt, aber nicht jede Maßnahme gilt als moralisch verpflichtend. Die christliche Ethik unterscheidet klar zwischen aktiver Tötung und dem Beenden einer unverhältnismäßigen Behandlung. Diese Unterscheidung ist jahrhundertealt und wurde von der modernen Moraltheologie weiter präzisiert. Behandlungen gelten als gerechtfertigt, wenn sie realistisch Aussicht auf Nutzen haben und den Betroffenen nicht übermäßig belasten. Maßnahmen, die lediglich Leiden verlängern, dürfen beendet werden; dies gilt ausdrücklich nicht als Tötung, sondern als zulässiges Unterlassen einer nicht mehr verhältnismäßigen Therapie (Reichert, 2008). Für die Dialyse bedeutet das: Wenn Nutzen und Belastung in keinem vernünftigen Verhältnis mehr stehen, kann das Beenden der Therapie ethisch legitim sein – selbst in traditionell konservativen christlichen Interpretationen.
Jüdische Perspektiven
Das Judentum misst dem Schutz des Lebens einen sehr hohen Stellenwert bei. Gleichzeitig ist die Unterscheidung zwischen aktiver Lebensverkürzung und dem Entfernen sogenannter „Hindernisse des Sterbens“ fest verankert. Wenn eine Behandlung das Leiden verlängert, ohne ein erreichbares Ziel zu haben, ist es erlaubt, sie zu beenden – vorausgesetzt, es wird nichts aktiv getan, um den Tod herbeizuführen (Dorff, 2005). Moderne halachische Autoritäten betonen, dass eine unverhältnismäßige Maßnahme nicht fortgeführt werden muss, wenn sie das Sterben nur hinauszögert. Damit steht die jüdische Ethik dem medizinischen Prinzip der therapeutischen Proportionalität sehr nahe. Auch hier gilt: Entscheidend ist, ob die Behandlung realistische Ziele erreicht und für die Person tragbar bleibt.
Islamische Perspektiven
In der islamischen Ethik besteht eine starke Verpflichtung zur Lebensrettung, aber auch hier ist klar definiert, dass Behandlungen mit realistischem Nutzen verpflichtet sind – und Maßnahmen ohne Nutzen nicht fortgeführt werden müssen. Islamische Fatwas und bioethische Stellungnahmen betonen ausdrücklich, dass eine Behandlung beendet werden darf, wenn Ärztinnen und Ärzte begründet feststellen, dass sie keinen therapeutischen Wert mehr hat oder unverhältnismäßig belastend ist (Abdel-Khalek, 2008). Das Beenden einer Dialyse in einer solchen Situation gilt nicht als Tötung, sondern als erlaubtes Unterlassen einer nicht mehr sinnvollen Maßnahme. Die Familie hat eine wichtige Rolle im Entscheidungsprozess, doch auch hier bleibt der Grundsatz bestehen: Maßnahmen ohne Nutzen oder mit übermäßiger Belastung müssen nicht fortgesetzt werden.
Ein gemeinsamer ethischer Kern
Trotz deutlicher kultureller Unterschiede in der Praxis verbindet alle drei Traditionen ein gemeinsames Prinzip: Eine Therapie ist geboten, solange sie Hoffnung auf ein realistisches Ziel bietet und die Person sie tragen kann; sie darf beendet werden, wenn sie dieses Ziel nicht mehr erreichen kann oder nur noch Leid verlängert. Dieser Gedanke findet sich in der christlichen Moraltheologie ebenso wie in halachischen Entscheidungen oder islamischen Fatwas. Für die Dialyse bedeutet das: Eine Beendigung kann in jeder der drei Religionen ethisch verantwortbar sein – sofern Indikation, Proportionalität und Patientenwille gemeinsam betrachtet werden.
Für die klinische Praxis ist genau das hilfreich: Angehörige, die religiös begründete Schuldgefühle haben, können verstehen, dass das Beenden einer unverhältnismäßigen Behandlung in keiner der drei Traditionen als moralisches Fehlverhalten gilt. Und für Behandelnde entsteht ein Rahmen, der es ermöglicht, Entscheidungen nicht nur medizinisch und rechtlich, sondern auch spirituell anschlussfähig zu kommunizieren.
Praktische Orientierung für den klinischen Alltag
Wenn Behandelnde mit der Frage konfrontiert sind, ob eine Dialyse am Lebensende begonnen, fortgeführt oder beendet werden sollte, braucht es einen klaren Entscheidungsrahmen. Nicht, weil die Situation dadurch einfacher würde, sondern weil sie strukturiert wird. Orientierung entsteht durch einen konsistenten Prozess: Wer systematisch vorgeht, vermeidet sowohl therapeutischen Aktionismus als auch das Gegenteil – das Zögern, das eine Entscheidung unnötig verlängert. In der Praxis zeigt sich immer wieder: Unsicherheit entsteht selten aus fehlendem Wissen, sondern aus fehlender Struktur. Genau diese Struktur ist notwendig, um Angehörige mitzunehmen, interprofessionelle Entscheidungen zu begründen und Verantwortung nachvollziehbar zu verteilen.
Klärung der medizinischen Ausgangslage
Behandelnde müssen präzise benennen, welche Ziele mit der Dialyse aktuell überhaupt erreichbar sind und welche nicht. Dialyse ist ein Verfahren mit klar definierter therapeutischer Zielrichtung: Sie soll Symptome lindern, Komplikationen vermeiden und eine gewisse Stabilität gewährleisten. Ob dies gelingt, hängt jedoch nicht allein von der Nierenfunktion ab, sondern vom gesamten klinischen Zustand: Multimorbidität, Gebrechlichkeit, funktionelle Reserve, kognitive Fähigkeiten und die allgemeine Lebenssituation beeinflussen unmittelbar, wie der Organismus auf die Behandlung reagiert. Wenn Belastbarkeit, Reserve oder Prognose so eingeschränkt sind, dass die Therapie ihre Ziele nicht mehr erreicht – sei es aufgrund zunehmender Instabilität, wiederkehrender Komplikationen oder einer Gesamtbelastung, die vom Körper nicht mehr getragen werden kann –, verliert die Dialyse ihre medizinische Indikation. Dieser Punkt wird im klinischen Alltag häufig unterschätzt, weil die technische Durchführbarkeit der Dialyse fast immer gegeben ist. Technische Durchführbarkeit ist jedoch kein medizinisches Argument. Indikation entsteht aus einem realistischen Nutzen innerhalb der Gesamtheit aller Erkrankungen und Einschränkungen – nicht aus der Möglichkeit, ein Verfahren weiterhin anzuwenden.
Ein strukturiertes Vorgehen beginnt mit einer nüchternen klinischen Bestandsaufnahme: Wie reagiert der Körper auf die letzten Behandlungen? Welche Komplikationen traten auf? Welche Ressourcen stehen dem Organismus noch zur Verfügung? Welche Ziele sind realistisch erreichbar? Diese Fragen sind keine Formalität, sondern der Kern der medizinischen Begründung. Wenn die Belastbarkeit sinkt, Symptome zunehmen oder die Behandlung mehr Kraft entzieht als sie zurückgibt, deutet die klinische Lage meist klar auf eine fehlende therapeutische Proportionalität hin.
Willen des Menschen
Hier ist entscheidend, ob der Patient oder die Patientin einwilligungsfähig ist. Wenn dies der Fall ist, steht das direkte Gespräch mit den Betroffenen im Vordergrund: Ziele, Wertvorstellungen und Erwartungen müssen besprochen werden, ohne die Entscheidung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Einwilligungsfähige Menschen treffen ihre Entscheidung selbst – unterstützt durch transparente Informationen und eine klare Darstellung der medizinischen Lage. Gleichzeitig spielen vertraute Bezugspersonen eine wichtige Rolle: nicht als Entscheider:innen, sondern als Menschen, die dem Betroffenen helfen können, die Situation im Kontext des eigenen Alltags, der eigenen Beziehungen und der eigenen Prioritäten einzuordnen. Viele wünschen in dieser Phase nicht technische Details, sondern die Antwort auf eine einzige Frage: „Was bedeutet diese Therapie in meinem aktuellen Zustand noch für mein Leben – und für die Menschen, die mir nahestehen?“
Wenn keine Einwilligungsfähigkeit vorliegt, muss zuerst geklärt werden, wer rechtlich überhaupt entscheiden darf. Liegt eine Vorsorgevollmacht für Gesundheitsangelegenheiten vor, entscheidet die bevollmächtigte Person – jedoch nicht nach eigenen Vorstellungen, sondern ausschließlich nach dem mutmaßlichen Willen. Fehlt eine Vollmacht, ist zu prüfen, ob ein:e rechtliche:r Betreuer:in mit entsprechendem Aufgabenkreis eingesetzt ist oder ob eine Betreuung beim Betreuungsgericht eingerichtet werden muss. Diese juristische Zuordnung ist keine Formalität. Sie ist Voraussetzung dafür, dass Entscheidungen am Lebensende rechtlich wirksam und für alle Beteiligten verbindlich getroffen werden können.
Rechtliche Zuständigkeit
Erst wenn die rechtliche Zuständigkeit zweifelsfrei feststeht, beginnt die Ermittlung des mutmaßlichen Willens – eine der anspruchsvollsten Aufgaben im klinischen Alltag. Sie beruht nicht auf Intuition oder familiären Annahmen, sondern auf einer strukturierten Rekonstruktion früherer Äußerungen, Wertvorstellungen, religiöser Überzeugungen oder langfristiger Lebenshaltungen. Angehörige werden dazu aktiv einbezogen – aber nicht als Entscheider:innen, sondern als Personen, die Hinweise liefern, wie der Mensch selbst entschieden hätte. Diese Differenz ist zentral. Sie schützt Angehörige davor, Entscheidungen „für“ jemanden treffen zu müssen, und hält den Fokus konsequent auf dem, was der Patient oder die Patientin tatsächlich gewollt hätte.
Gemeinsame Entscheidungsfindung
Damit dieser Prozess tragfähig bleibt, braucht es klare Checkpunkte:
- Ist die medizinische Indikation noch gegeben?
→ Werden realistische Therapieziele (Stabilität, Symptomkontrolle, Funktionsgewinn) erreicht?
→ Haben Multimorbidität, Frailty (Gebrechlichkeit) oder funktionelle Einbrüche die Verhältnismäßigkeit verändert? - Wie hoch ist die tatsächliche Belastung der Therapie?
→ körperlich, funktionell, kognitiv, emotional, sozial
→ Wie viel Energie gibt die Dialyse zurück – und wie viel nimmt sie? - Wer ist rechtlich vertretungsbefugt?
→ Liegt eine Vorsorgevollmacht für Gesundheitsangelegenheiten vor?
→ Gibt es eine:n rechtliche:n Betreuer:in?
→ Muss eine Betreuung eingerichtet werden? - Wie lautet der aktuelle oder mutmaßliche Wille?
→ dokumentierte Äußerungen, frühere Gespräche, Wertvorstellungen, religiöse Überzeugungen
→ Angaben nahestehender Personen als Hinweise, nicht als eigene Entscheidung - Welche klinischen Verläufe sprechen für oder gegen die Fortführung der Dialyse?
→ zunehmende Instabilität, wiederholte Komplikationen, schlechte Toleranz
→ geringe Regenerationsfähigkeit zwischen den Sitzungen - Ist die Entscheidung interprofessionell abgestimmt?
→ Nephrologie, Palliativmedizin/SAPV, Pflege, Hausarzt, Sozialdienst
→ gemeinsame Indikationsprüfung statt Einzelentscheidung - Sind die Angehörigen informiert, einbezogen und emotional stabil genug, den Prozess zu verstehen und mitzutragen?
→ klare Kommunikation, realistische Erwartungssteuerung
→ Angehörige als Unterstützende, nicht als Entscheider:innen - Ist der palliativmedizinische Übergang vorbereitet?
→ Symptomkontrolle, Flüssigkeitsmanagement, Atemnotlinderung
→ Krisenintervention (72h/7-Tage-Perspektive), häusliche Versorgung, Hospizoptionen
Auf dieser Grundlage entsteht die gemeinsame Entscheidungsfindung.
Grundlagen der Kommunikation
Ein zentraler Bestandteil ist eine professionelle Gesprächsführung. Sie sollte nicht defensiv beginnen („Wir können nichts mehr tun“), sondern klar strukturiert und an den auftretenden Triggerpunkten orientiert sein: Funktionsverluste, wiederholte Komplikationen, zunehmende Instabilität oder veränderte persönliche Bewertungen und Prioritäten. Diese objektiven Veränderungen bilden den sachlichen Kern des Gesprächs – nicht Vermutungen oder moralische Wertungen. Entscheidend ist die Frage: Was bedeutet die Dialyse in diesem Zustand? Wie wirkt sie sich im Alltag aus? Welche realistischen Alternativen bestehen?
Gespräche müssen transparent, realistisch und frei von Beschönigung geführt werden. Angehörige brauchen Worte, die tragfähig sind, nicht Worte, die beruhigen sollen. Gleichzeitig müssen Behandelnde klare Grenzen setzen: Sie beraten medizinisch – sie delegieren keine Entscheidungshoheit an Angehörige, sondern bleiben verantwortlich für die Prüfung der Indikation.
Die Qualität dieser Gespräche hängt nicht an der Berufsbezeichnung, sondern an der Person, die den Menschen am besten kennt. Wer den engsten Kontakt hat, das tägliche Tempo, die Belastbarkeit und die Veränderungen am unmittelbarsten erlebt, kann diese Gespräche am besten vorbereiten – unabhängig davon, ob es eine Ärztin, ein Pflegender, eine Palliativfachkraft oder ein:e Therapeut:in ist. Die Gesprächsführung ist deshalb keine Frage der Hierarchie, sondern der Kompetenz und Nähe zur Situation. Entscheidend ist nur eines: dass die fachlich zuständige Person die medizinische Indikation verantwortet und die Entscheidung trägt, während die bestinformierte Person den Gesprächsprozess anleitet und strukturiert.
Unterstützendes Netz
Professionelle Orientierung bedeutet nicht nur zu wissen, wann externe Unterstützung sinnvoll ist, sondern diese Unterstützung aktiv zu organisieren und für den Menschen nutzbar zu machen. Palliativdienste können die klinische Einschätzung vertiefen, Symptomlast erfassen und Versorgungswege eröffnen, die nicht als „Therapieende“, sondern als belastungsreduzierende Versorgung verstanden werden. In komplexen Situationen helfen Ethikberatungen, Konflikte zu ordnen und Kommunikationsstrukturen zu stabilisieren. Das Betreuungsgericht ist einzubeziehen, wenn keine Vertretung existiert, der Wille nicht rekonstruierbar ist oder Zweifel an der Vollmacht bestehen – als Schutzmechanismus, nicht als Ersatz für professionelle Verantwortung.
Entscheidend ist dabei nicht, dass Behandelnde alles selbst übernehmen, sondern dass sie Menschen und Angehörige befähigen, ein tragfähiges Unterstützungsnetzwerk aufzubauen: passende Dienste einzubinden, Zuständigkeiten zu klären und die Versorgung so zu strukturieren, dass sie dem tatsächlichen Bedarf entspricht. Unterstützung bedeutet in dieser Phase nicht, „alles für den Menschen zu erledigen“, sondern dabei zu helfen, Strukturen zu finden, die tragen. Genau dadurch entsteht ein Versorgungsrahmen, der nicht zufällig ist, sondern individuell und belastbar.
Symptomorientierte Therapie nach dem Dialyse-Ende
Wenn die Dialyse endet – weil die medizinische Indikation entfällt oder der Wille des Menschen dagegensteht –, beginnt eine neue Behandlungsphase. Die Therapie richtet sich nun konsequent an den Symptomen, der Belastbarkeit und den realistischen Zielen dieser Lebenssituation aus. Sie konzentriert sich darauf, Beschwerden zu lindern, Stabilität zu fördern und den Alltag so ruhig und entlastend wie möglich zu gestalten. Der therapeutische Fokus verschiebt sich vom Organersatz hin zu einer Form der Medizin, die dem Zustand des Menschen entspricht und seine verfügbaren Ressourcen schützt.
In den ersten Stunden und Tagen erleben viele Patient:innen eine spürbare Entlastung: Wegfall von Transporten, keine Therapietermine, weniger körperlicher Stress. Müdigkeit, ein zunehmender Rückzug oder Schläfrigkeit zeigen häufig die natürliche Stoffwechselsituation dieser Phase. Diese Veränderungen gehören zum erwartbaren Verlauf und können durch klare Orientierung und engmaschige Begleitung gut eingeordnet werden.
Viele Angehörige fragen sich in dieser Phase, wie mit Flüssigkeit und Trinken umgegangen werden soll. Der Stoffwechsel verändert sich deutlich, und damit auch das natürliche Durstempfinden. Viele Menschen trinken weniger, weil ihr Körper es so vorgibt – nicht, weil ihnen etwas fehlt. Ziel der Therapie ist deshalb eine individuell abgestimmte Balance, die Entlastung fördert. Kleine Mengen Flüssigkeit können wohltun, wenn sie bewusst gewählt sind. Größere Mengen oder Infusionen benötigen dagegen eine klare medizinische Begründung, da sie in dieser Phase oft zu Atemnot, Ödemen oder innerer Unruhe führen. Im Vordergrund steht die spürbare Entlastung des Menschen: ein ruhiger Atem, ein stabiler Kreislauf, ein angenehmes Mundgefühl. Regelmäßige Mundpflege ist dafür meist hilfreicher als zusätzliche Flüssigkeit und wird von vielen Patient:innen als angenehm erlebt. Therapie orientiert sich somit an Komfort und Wohlbefinden – nicht an Trinkmengen oder technisch erreichbaren Flüssigkeitsbilanzen.
Ein wesentlicher Bestandteil dieses Versorgungsweges ist die sorgfältige Auswahl medizinischer Maßnahmen. Untersuchungen, Transporte oder technische Eingriffe werden so gestaltet, dass sie tatsächlich zur Stabilität oder Symptomlinderung beitragen. Wo sie keinen klaren therapeutischen Nutzen stiften, kann eine Reduktion entlastend wirken. Die Behandlung gewinnt dadurch an Ruhe und Überschaubarkeit: weniger Fremdreize, weniger Unterbrechungen, mehr Raum für Nähe und für das, was der Mensch als hilfreich erlebt. Für viele Angehörige entsteht dadurch ein nachvollziehbarer, klarer Rahmen, der Orientierung gibt.
Damit diese Therapieform stabil umgesetzt werden kann, braucht es eine verlässliche Struktur. Dazu gehören klare Kontaktwege, erreichbare Ansprechpersonen und die Einbindung der Dienste, die den Alltag kontinuierlich begleiten können. Je nach Lebenssituation kann dies zu Hause, in einer Pflegeeinrichtung oder in einem Hospiz geschehen. Entscheidend ist die Fähigkeit, Symptome zeitnah zu erkennen und zu behandeln – unabhängig vom Ort.
Spezialisierte ambulante Palliativteams (SAPV) oder andere multiprofessionelle Dienste können diesen Weg zusätzlich stützen. Ihr Beitrag liegt in der genauen Beobachtung, der schnellen Anpassung therapeutischer Maßnahmen und in der emotionalen Entlastung von Angehörigen. Sie sorgen dafür, dass die Behandlung ruhig, strukturiert und vorhersehbar bleibt.
Besonders die ersten 72 Stunden und die ersten sieben Tage nach dem Dialyse-Ende profitieren von enger Begleitung. In dieser Zeit verändern sich Belastung und Symptomatik oft spürbar. Eine klare therapeutische Struktur hilft Angehörigen, diese Veränderungen einzuordnen und reduziert Unsicherheiten. Für Behandelnde entsteht ein stabiler Rahmen, um Linderung, Orientierung und Sicherheit verlässlich zu gewährleisten.
Symptomorientierte Therapie nach dem Dialyse-Ende ist eine aktive, fachlich begründete Behandlungsform. Sie folgt dem inneren Tempo des Menschen und konzentriert sich auf das, was seine Lebensqualität in dieser Phase stärkt: Ruhe, Entlastung, Sicherheit und die kontinuierliche Anpassung der Behandlung an seine Bedürfnisse. Sie zeigt, dass das Ende einer Dialyse nicht das Ende medizinischer Verantwortung bedeutet, sondern den Beginn einer Therapie, die sich vollständig an den real erreichbaren Zielen und den spürbaren Bedürfnissen des Menschen ausrichtet.
Fazit – Orientierung statt Unsicherheit
Dialyse am Lebensende ist keine technische Frage. Es ist eine Frage der Zielsetzung, der Belastbarkeit und des Willens des Menschen. Entscheidungen werden tragfähig, wenn sie systematisch getroffen werden: durch eine klare Prüfung der medizinischen Indikation, durch die Einbindung des rechtlichen Rahmens, durch die Ermittlung des aktuellen oder mutmaßlichen Willens und durch eine nüchterne Einschätzung der Belastungen, die die Therapie erzeugt.
Clinical Reasoning bedeutet in dieser Phase, den gesamten Verlauf im Blick zu behalten und jede Entscheidung an drei Leitlinien auszurichten: Was lässt sich medizinisch noch erreichen? Was trägt zur Lebensqualität bei? Und was entspricht dem, was der Mensch selbst gewollt hätte? Wenn diese drei Linien zusammengeführt werden, entsteht eine Entscheidung, die nachvollziehbar und verantwortbar ist – unabhängig davon, ob die Dialyse fortgeführt oder beendet wird.
Das Ende einer Dialyse ist kein Versorgungsvakuum. Es ist der Übergang zu einer Therapieform, die sich konsequent an Symptomen, Belastbarkeit und Wohlbefinden orientiert. Sie stärkt Ruhe, Sicherheit und Stabilität und richtet sich vollständig an dem aus, was in dieser Lebensphase erreichbar ist. Für Angehörige entsteht dadurch ein klarer, verlässlicher Rahmen. Für Behandelnde entsteht eine strukturierte Grundlage, Entscheidungen fachlich und ethisch zu begründen.
Die zentrale Botschaft lautet: Gute Medizin am Lebensende entsteht durch Orientierung, Klarheit und eine Struktur, die trägt. Sie schützt Würde, vermeidet unnötige Belastungen und stellt sicher, dass Therapieentscheidungen dem Menschen gerecht werden – nicht dem Verfahren.
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