Sektoraler Heilpraktiker mit Physio-Ausbildung

Lesedauer 5 Minuten

Ärztliche Gedanken im Kontext einer interprofessionellen Zusammenarbeit

Einleitung

Die Rolle des sektoralen Heilpraktikers mit einem Hintergrund in der Physiotherapie bietet eine einzigartige Chance in der Welt der komplementären Medizin. Diese Zusatzqualifikation ermöglicht es, diagnostische und therapeutische Maßnahmen als Physiotherapeut selbstständig durchzuführen, ohne an ärztliche Rezeptpflichten gebunden zu sein. Dieser Beitrag beleuchtet einige Aspekte dieser speziellen Qualifikation, von der Definition und dem Weg zur Erlangung bis hin zu den beruflichen Chancen, die sie eröffnet. Dieser Beitrag ist meine ärztliche Sichtweise im Zusammenhang eines interprofessionellen thrapeutischen Ansatzes in der Medzin.

Was ist ein sektoraler Heilpraktiker?

Für examinierte Physiotherapeuten bietet die Zusatzqualifikation als sektoraler Heilpraktiker die Freiheit für erweiterte diagnostische und therapeutische Möglichkeiten. Ein wesentlicher Vorteil dieser Anerkennung ist die Unabhängigkeit von ärztlichen Rezepten, die es ermöglicht, Patienten direkt und eigenständig zu behandeln. Ein sektoraler Heilpraktiker ist eine spezialisierte Form des Heilpraktikers, die sich auf die Behandlung von Krankheitsbildern aus dem Arbeitsumfeld des Physiotherapeuten beschränkt. Im Gegensatz dazu hat ein allgemeiner Heilpraktiker keine Einschränkungen in seinem therapeutischen Angebot.

Beispiel: Ein Physiotherapeut mit einer sektoralen Heilpraktiker-Anerkennung könnte beispielsweise eine umfassende Diagnose für einen Patienten mit Rückenschmerzen stellen und dann eine individuelle Therapie planen, ohne eine Überweisung von einem Arzt zu benötigen.

In dieser Situation ergeben sich andere Verpflichtungen als bei einer reinen „physiotherapeutischen Auftragsarbeit“, wie sie durch die Erfüllung eines Rezeptes verstanden werden könnte. Diese erweiterte Sicht einer eigenständigen Befundung und Therapieplanung hat sich im modernen Arbeitsumfeld des Physiotherapeuten im Rahmen seiner bisherigen Tätigkeit praktisch schon so weit umgesetzt, dass das Bundesverwaltungsgericht (BVG) in seinem Urteil vom 26.08.2009 die bisherige Rechtsauffassung zur „Ausübung der Heilkunde“ neu beschrieben hat als „…jede berufs- oder gewerbsmäßige Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden beim Menschen“ …“Maßgeblich dafür seien … das Erfordernis ärztlicher oder heilkundlicher Fachkenntnisse und die Gefahr gesundheitlicher Schäden. Beide Voraussetzungen wurden für die Physiotherapie bejaht.“ (zitiert nach (Stock, 2021)1. Insofern wird der examinierte Physiotherapeut in Bezug auf seinen Kenntnisstand als qualifizierter eingestuft als der durch Prüfung des Gesundheitsamtes zur Heilkunde zugelassene Heilpraktiker.

Trotzdem ist „rein rechtlich gesehen“ dem Physiotherapeuten die eigenständige Ausübung der Heilkunde im Gegensatz zum Heilpraktiker versagt. Dieser Widerspruch führt zur aktuellen Regelung, dass die Tätigkeit des sektoralen Heilpraktikers auf die in seinem „durch Examensprüfung nachgewiesenen Kenntnisbereich“ begrenzt wird. Nach meinem Wissen erstmals wurde in der Urteilsbegründung des BVG die „systematische Unstimmigkeit“ benannt, dass objektiv hoch qualifizierte Fachkräfte rechtlich hinter Menschen mit „einfachem Kenntnisnachweis“ zurückstehen müssen.

Statistik/Schätzungen: Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland zwischen 10.000 und 15.000 sektorale Heilpraktiker für Physiotherapie. Die Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM) schätzt die Zahl auf etwa 12.000, während die Bundesärztekammer von etwa 10.000 ausgeht2.

Der Weg zum sektoralen Heilpraktiker

Ausbildung und Prüfung

Der Weg zum sektoralen Heilpraktiker ist ein mehrstufiger Prozess, der sowohl eine fundierte Ausbildung als auch eine spezielle Prüfung erfordert. Zunächst muss man eine anerkannte Ausbildung zum Physiotherapeuten absolvieren. Nach erfolgreichem Abschluss dieser Ausbildung kann man sich für die spezielle Prüfung zum sektoralen Heilpraktiker anmelden. Diese Prüfung ist in der Regel anspruchsvoll und setzt ein tiefgehendes Verständnis für medizinische und therapeutische Konzepte voraus.

Die Prüfung zielt darauf ab, die Fähigkeit des Antragstellers zu bewerten, eigenständig eine medizinische Diagnose zu erstellen und die Notwendigkeit weiterführender Abklärungen zu erkennen. Darüber hinaus muss der Antragsteller in der Lage sein, die Grenzen seiner eigenen Tätigkeit zu erkennen und bei Bedarf auf eine ärztliche Abklärung oder Behandlung zu bestehen. Dies ist besonders relevant, da viele Patienten den sektoralen Heilpraktiker als Erstkontakt bei unklaren Beschwerden aufsuchen. In dieser Rolle muss der sektorale Heilpraktiker die medizinisch erforderlichen Schritte im Gesamtkontext einleiten können.

Im Gegensatz zum allgemeinen Heilpraktiker, der meist eine schriftliche und eine mündliche Prüfung ablegen muss, genügt für den sektoralen Heilpraktiker in der Regel eine mündliche Überprüfung. Die Details sind durch die Bundesländer geregelt. Grundlage sind die „Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärterinnen und -anwärtern“ des Bundesgesundheitsministeriums vom 7. Dezember 2017 (Bekanntmachung im Bundesanzeiger)

Abgrenzung zur Arbeit als Physiotherapeut

Als sektoraler Heilpraktiker genießt man den Vorteil, Patienten ohne ärztliche Verordnung behandeln zu können. Man kann basierend auf einer eigenen Untersuchung selbstständig entscheiden, welche Behandlung in welcher Häufigkeit und Frequenz angewandt werden soll. Dies steht im Kontrast zur Arbeit als Physiotherapeut, der in der Regel auf eine ärztliche Verordnung angewiesen ist. Gleichzeitg ergibt sich die Verpflichtung nicht im eigenen beruflichen Kontext behandelbare Krankheiten zur weiteren Versorgung in das Gesundheitssystem zu integrieren und an Ärzte zur weiteren Diagnose zu verweisen.

Abgrenzung zur Arbeit als Arzt und allgemeiner Heilpraktiker

Im Gegensatz zu Ärzten und allgemeinen Heilpraktikern, die eine breite Palette an Behandlungsmethoden anwenden dürfen, ist der sektorale Heilpraktiker auf die Methoden beschränkt, die auch in der Physiotherapie angewendet werden. Das bedeutet, dass man als sektoraler Heilpraktiker nur die Behandlungen durchführen darf, für die man als Physiotherapeut bereits qualifiziert ist.

Therapeutische Ansätze und ihre Bedeutung für den Patienten

Mit einem Fokus auf Therapie und Diagnose ist der sektorale Heilpraktiker in der Physiotherapie besonders effektiv bei der Behandlung von skeletomuskulären Erkrankungen. Die Fachkompetenz, die sich aus dem beruflichen Umfeld und den erlernten Fähigkeiten der Physiotherapeuten ergibt, ermöglicht eine spezialisierte und oft effektivere Behandlung in vielen Bereichen. Beispielhaft:

Muskuloskelettale Erkrankungen

Dies umfasst ein breites Spektrum von Beschwerden wie Rückenschmerzen, Gelenkprobleme und Muskelverspannungen. Die fundierte Ausbildung in Biomechanik und Manueller Therapie ermöglicht dem sektoralen Heilpraktiker eine präzise Diagnose und individuell abgestimmte Behandlungspläne.

Beispiel: Ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen profitiert von der spezialisierten Expertise des sektoralen Heilpraktikers, der durch eine umfassende Anamnese und biomechanische Analyse die genaue Ursache der Beschwerden identifizieren kann. Daraufhin kann eine zielgerichtete Therapie mit manuellen Techniken und spezifischen Übungen eingeleitet werden.

Sportverletzungen

Die biomechanische Expertise und das Verständnis für sportliche Bewegungsabläufe machen den sektoralen Heilpraktiker besonders effektiv in der Behandlung von Sportverletzungen wie Zerrungen, Verstauchungen oder Muskelfaserrissen.

Chronische Erkrankungen des Bewegungsapparates

Bei chronischen Zuständen wie Arthrose oder Fibromyalgie kann der sektoralen Heilpraktiker durch einen ganzheitlichen Ansatz, der sowohl manuelle Therapie als auch Bewegungsübungen umfasst, nachhaltige Therapieerfolge erzielen.

Postoperative Rehabilitation

Die spezialisierte Ausbildung in Rehabilitationsübungen und -techniken ermöglicht dem sektoralen Heilpraktiker, nach chirurgischen Eingriffen einen individuellen Rehabilitationsplan zu erstellen und umzusetzen.

Beispiel: Nach einer Hüftoperation kann der sektorale Heilpraktiker einen maßgeschneiderten Rehabilitationsplan entwickeln, der sowohl die Wiederherstellung der Beweglichkeit als auch die Stärkung der Muskulatur berücksichtigt.

Neurologische Erkrankungen

Die fundierte Kenntnis in Neurophysiologie ermöglicht dem sektoralen Heilpraktiker effektive Therapieansätze bei neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Parkinson.

Atemwegserkrankungen

Die spezialisierte Ausbildung in Atemtechniken und die Kenntnis der Atemphysiologie ermöglichen dem sektoralen Heilpraktiker, bei chronischen Atemwegserkrankungen wie Asthma oder COPD effektive Therapieansätze zu bieten.

Vorteile für den Patienten

  • Schnelle und präzise Diagnose: Die Fachkompetenz des sektoralen Heilpraktikers ermöglicht eine rasche und genaue Diagnosestellung.
  • Spezialisiertes Wissen: Die Behandlung profitiert von der spezialisierten Expertise, die sich aus dem beruflichen Umfeld und den erlernten Fähigkeiten der Physiotherapeuten ergibt.
  • Ganzheitliche Betrachtung: Die Fähigkeit zur ganzheitlichen Betrachtung des Patienten führt zu einer effektiveren und oft nachhaltigeren Therapie.

Insgesamt bietet der sektorale Heilpraktiker mit Physio-Hintergrund eine hochspezialisierte und oft effektivere Behandlungsoption für eine Reihe von skeletomuskulären Erkrankungen und Problemen des Bewegungsapparates.

Besonderheiten in Diagnose und Therapie

Die Fähigkeit zur eigenständigen Diagnose und Therapieplanung ist ein wesentliches Merkmal, das den sektoralen Heilpraktiker von einem regulären Physiotherapeuten unterscheidet. Während ein Physiotherapeut in der Regel auf eine ärztliche Verordnung angewiesen ist, kann der sektorale Heilpraktiker eigenständig diagnostische und therapeutische Entscheidungen treffen.

Diagnostische und Therapeutische Kompetenz

Der sektorale Heilpraktiker erfordert eine erweiterte Kompetenz in den Bereichen Anamnese, klinische Tests und Interpretation der Ergebnisse, die ihn zum eigenständigen Arbeiten befähigt. Diese erweiterte Kompetenz muss mit der Bereitschaft, die zusätzliche Verantwortung zu übernehmen, verbunden sein.

Verantwortung und Ethik

Mit der erweiterten diagnostischen und therapeutischen Freiheit kommt auch eine erhöhte Verantwortung. Der sektorale Heilpraktiker muss die Grenzen seiner Kompetenz erkennen und bei Bedarf eine Überweisung zu einem Facharzt oder weiteren diagnostischen Tests veranlassen.

Selbstständigkeit, Freiheit und Chancen

Die Zusatzqualifikation als sektoraler Heilpraktiker bietet nicht nur die Freiheit der Selbstständigkeit, sondern auch zahlreiche berufliche Chancen jenseits der Therapie.

Autonomie

Die Fähigkeit, eigenständig diagnostische und therapeutische Entscheidungen zu treffen, bietet ein hohes Maß an beruflicher Autonomie.

Erweiterte Zielgruppe

Durch die Unabhängigkeit von ärztlichen Verordnungen erweitert sich die potenzielle Patientenbasis erheblich. Dies umfasst sowohl privat versicherte Patienten als auch Selbstzahler.

Wirtschaftliche Vorteile

Die Unabhängigkeit von ärztlichen Verordnungen und die Möglichkeit, direkt mit Patienten abzurechnen, bieten auch wirtschaftliche Vorteile. Sektorale Heilpraktiker haben mehr Freiheit in der Preisgestaltung ihrer Dienstleistungen.

Patienten- und Therapeutenzufriedenheit

Die höhere Wirksamkeit der Behandlungen, die Wertschätzung der Patienten und die Möglichkeit für mehr Empathie im Patientenkontakt führen zu einer erhöhten Zufriedenheit sowohl für den Therapeuten als auch für den Patienten.

Schlussfolgerungen

Der sektorale Heilpraktiker mit einem Hintergrund in der Physiotherapie stellt eine wichtige Ergänzung im Gesundheitssystem dar. Durch die Kombination von fundiertem Fachwissen in der Physiotherapie und der Fähigkeit zur eigenständigen Diagnose und Therapie bietet diese Qualifikation sowohl für den Therapeuten als auch für den Patienten zahlreiche Vorteile. Die Rolle des sektoralen Heilpraktikers wird in der komplexen und interdisziplinären Landschaft der Gesundheitsversorgung immer wichtiger.

Darüber hinaus bietet die Qualifikation als sektoraler Heilpraktiker die Chance, sich als eigenständiger Heilkundeausübender im Kontext interprofessioneller Arbeit im Gesundheitswesen zu positionieren. In diesem Sinne ist der sektorale Heilpraktiker dem Arzt gleichgestellt, wenn auch in seinem Wirkbereich eingeschränkt.


Fussnoten

  1. Stock, Prof. Dr. C. (2021, April 21). Rechtsgutachten zum Heilpraktikerrecht. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/rechtsgutachten-zum-heilpraktikerrecht.html
    ↩︎
  2. Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM) und Bundesärztekammer. Schätzungen basieren auf Umfragen und Zahlen der Ärztekammern ohne Einzelquelle ↩︎